Buchstabensalat
Lebenskünstlerin
Sieben Tage, sieben Nächte...
Nun ist sie weg...
Gerade hatte ich mein kleines Bündel noch im Arm, eingewickelt in eine Decke, mit einem dünnen Sauerstoffschlauch vor der Nase. Ihr Atem geht schnell und unregelmäßig, und die Kinderkrankenschwester der Kinderklinik steht neben mir, bereit, sie mitzunehmen, während der Kinderarzt noch Dinge mit meinem Mann bespricht.
"Geben Sie ihr noch ein Küßchen", muntert sie mich auf.
Ich betrachte das kleine Schnauferl und schüttele den Kopf. Es kommt mir vor, als würde ich ihr dann das Atmen nur noch schwerer machen, wenn ich mich jetzt über sie beuge, sie fester an mich drücke... Entschlossen gebe ich sie rüber. Besser, sie kommt jetzt in den Brutkasten, und man ergreift die richtigen Maßnahmen für sie.
Und dann bin ich allein im Kreisssaal, mein Mann ist nach Hause gefahren, meine Krankenhaustasche zu packen. Wenn er wiederkommt, werden die Hebamme und die Ärztin die Papiere fertig haben, und auch wir fahren dann in den Nachbarort, wo ich auf der Wöchnerinnenstation unterkommen werde, während meine Kleine auf der Intensivstation gepflegt wird. Inzwischen kann ich in Ruhe noch ein Abendessen genießen und über die Namen nachdenken, die wir unserer Kleinen geben wollen.
Da klopft es an der Tür.
Herein kommt meine Freundin, die mir eigentlich zwei Wochen voraus war. Sie hat gleich Schwangerschaftsgymnastik im Hause und ist von meinem Mann informiert worden, und nun grinse ich sie breit an und sage: "Erster".
Sie lacht und beglückwünscht mich, und dann kommt sie, die eine, wichtige Frage: "Wie war es?"
"Du, das darf ich dir eigentlich gar nicht sagen, momentan ist mir nämlich noch alles genau im Gedächtnis."
Nicht, daß sie Erstgebärende wäre, sie hat bereits einen fast zwei Jahre alten Sohnemann - aber der war ein Kaiserschnitt. Auch bei dieser Geburt hat man ihr wieder die Möglichkeit gegeben, einen Kaiserschnitt zu wählen, und nun hängt sie zwischen den beiden Möglichkeiten - natürlich zu entbinden oder "komfortabel" - wäre keine Frage für mich.
Gute vier Stunden, nachdem ich durch den Haupteingang gekommen bin, verlasse ich die gastliche Stätte wieder - ebenfalls auf eigenen Füßen. Wenige Minuten nur dauert die Fahrt, dann schlagen wir auf der Wöchnerinnenstation auf. Mein Mann kümmert sich um alles, während ich in seliger Nach-Geburts-Hormon-Euphorie verharre. Überall Mütter mit Babybettchen, in die ich neugierig hineinluge. Und kaum daß man mir ein Zimmer zugewiesen hat, gehts auch schon für uns auf die Kinder-Intensivstation.
Dort weist man uns in das korrekte Prozedere ein - Klingeln, Blickkontakt mit einer Schwester, durch die Nebentür in den Schleusenraum, Händewaschen, Desinfizieren, Kittel anziehen und dann rein.
Die noch (fast) Namenlose (immerhin steht Vanessa als EIN Vorname schon fest) liegt in einem Inkubator, verloren in einer winzigen Neugeborenenwindel, die ihr fast bis unter die Achseln reicht. Dünne Arme und Beine, ein großer Kopf mit einem zarten Gesichtchen und einem spitzen Kinn. Und Kabel, überall schlängelt sich was, drei Elektroden auf ihrem Körper, ein Sauerstoffbändchen am Fuß, eine Infusion in der Kopfvene, in der Hand, eine Sonde in der Nase...
Immerhin dürfen wir durch die Grifflöcher hineingreifen und sie streicheln. Aber wo?
Nun, immerhin ein Fuß ist ja frei, und die andere Kopfseite auch. So stehen wir um den Kasten herum, einer auf jeder Seite, Hände am Kind, sanft streichelnd... Bis uns bewußt wird, WIE spät es ist. Mein Mann muß ja noch nach Hause, *** wartet ja auf ihn. Und auch mich holen die Strapazen langsam ein. So verabschieden wir uns, erst von ihr, dann von einander.
Auf der Wöchnerinnenstation bekomme ich den obligatorischen Wasserbecher und was Frau noch so braucht. Auch die Milchpumpe wird mir gezeigt, mit dem guten Rat, doch schon Stilltee zu trinken und regelmäßig abzupumpen.
Meine sanften Einwände, das habe keine Not, das ginge schon, werden ungläubig ignoriert. Nun, ihr werdet schon sehen.
Schließlich habe ich meine Erfahrungen gemacht. Nachdem *** auf der Welt war, habe ich am ersten Tag bereits zwei LITER Stilltee getrunken - und bitter bereut. Der Milcheinschuß kam am zweiten Tag (nicht, daß sie vorher groß Hunger leiden mußte - Kolostralmilch war durchaus reichlich da) - und beinahe wären mir die Brüste geplatzt. Mein Mann strahlte, mein Kind soff den ganzen Abend an mir rum, bis es bei jeder Bewegung überschwappte, und ich wurde drei Nächte lang wach, weil ich in einem langsam erkaltenden Milchsee lag. Trotz Stillvorlagen.
Man könnte also sagen, ich habe meine Lektion gelernt, noch dazu, wo ich bereits seit Mai mit tröpfelnder Vormilch-Brust herumgehe. Ich werde den Teufel tun und meine Brust noch anfeuern! Wer zahlt mir nachher die Reparaturarbeiten an meinem Vorbau, wenn ich platze?
Nichtsdestotrotz setze ich mich vor die Pumpe und tue meine Pflicht. Sobald die Milch im Labor analysiert ist, so erklärt man mir, kann sie meiner Kleinen nämlich durch die Sonde zugeführt werden - und das soll so schnell wie möglich geschehen.
Ich bringe ein ganz ansehnliches Pfützchen zusammen, das im Glas in den Kühlschrank wandert. Morgen werde ich es mit auf die Station nehmen.
Schon am frühen Morgen gegen acht Uhr (direkt nach dem Frühstück, daß alle Mütter gemeinsam in einem Frühstückszimmer einnehmen - schöne Idee, finde ich, so gemeinschaftlich) bin ich wieder bei ***. Ja, das steht nun fest. *** lautet der Kompromiß, den wir nach zähem Ringen ausgehandelt haben. Und sofort sorge ich dafür, daß der Name auf ihrem Kärtchen am "Inki", wie die Schwestern zärtlich sagen, eingetragen wird.
Bis zehn, halb elf stehe ich dort neben ihr und halte ihre Hand. Rede immer mal wieder mit ihr. Gehe dann wieder auf die Wöchnerinnen-Station, esse zu Mittag, schlafe etwas, pumpe Milch ab, trinke Tee und bin gegen 15 Uhr wieder bei ihr. Bis gegen sechs. Abendbrot, dann wieder auf die Intensiv, bis ich gegen acht, neun Uhr gehe.
Zwischendurch kommt mein Mann mit der kleinen - nein, Großen. Wenigstens EIN Kind zum In-den-Arm-nehmen. Wir laufen herum, sehen die vielen Babys, und *** lernt ein neues Wort: "Dedi?" Sie ist regelrecht fasziniert von den vielen kleinen Wesen, die ja noch kleiner sind als sie...
Dann der Abschied, **** weint ein wenig, sie versteht nicht, wieso ich nicht mitkomme.
Das wird über die nächsten Tage eine gleichbleibende Routine werden. Abpumpen, zwei-, dreimal am Tage rüber zu ***, ab vier Uhr kommt *** mit Papa oder Opa, gegen sechs fahren die wieder zurück, dann wieder abpumpen und zu *** gehen.
*** braucht immer mehr Sauerstoff. 21 %, so belehrt man mich, befinden sich sowieso in der Atemluft. Die Luft im Inki ist inzwischen zu 27 % mit Sauerstoff gesättigt, Tendenz steigend. 30 % sind es am 2. Tag.
Während meiner Nachmittagsschicht - ich wurde gerade eingewiesen, wie ich mein Kind selbst wickeln kann - spricht mich jemand von hinten an:
"Das ist gut", sagt eine männliche Stimme, "reden Sie immer schön mit dem Kind..."
Ich drehe mich um. Gerade habe ich *** erklärt, daß zum Wickeln auch Fiebermessen gehört, und sie das ganz prima macht, so schön still zu liegen.
Hinter mir steht der Chefarzt, gibt mir seine große, warme, fest zupackende Hand und stellt sich vor. Sympathisch.
Dann kommt er zur Sache.
*** Sauerstoffaufnahme ist nicht gut - ja, das sagte man mir - und meist kommen die Kinder am zweiten, dritten Tag in die Krise. Dazu atmet sie sehr gequält und unruhig - ich betrachte den sich schnell und unregelmäßig hebenden kleinen Brustkorb - und daher würde er sie gerne intubieren.
Aha.
Sie bekäme eine Beruhigungsspritze, und dann würde der Tubus gelegt. Dazu müsse man auch die Länge der Bronchien messen.
Ein großer Computerwagen wird herangerollt.
"Dann wollen Sie sicherlich, daß ich gehe? Ich störe dann doch sicherlich, wenn ich hier so im Weg stehe?"
Er stimmt mir zu, meint aber, wenn ich mir das zutraute, dürfte ich während der Spritzengabe dabeibleiben.
Sicher, kein Problem.
Der Inki wird aufgeklappt und *** quer zum Bettchen herausgenommen. Ich lege die Hände seitlich neben ihren Kopf und halte sie, rede mit ihr, erkläre ihr, was passieren wird. Neben mir wuseln die Schwestern herum. Ich bleibe, bis *** ihre Spritze bekommen hat, erkundige mich, wann ich wiederkommen soll/darf. Abends, das sei kein Problem.
Als ich wiederkomme, höre ich das typische "Shhht-Shhht" einer Beatmungsmaschine. In ***s Hals führt ein relativ kleiner Schlauch, nicht besonders bedrohlich oder beeindruckend anzusehen. Dafür "atmet" sie jetzt regelmäßiger, nicht mehr so gehetzt.
Der Atemimpuls, so erklärt mir eine der Schwestern, wird immer noch von ihr gegeben. Die Maschine nimmt ihn entgegen und pumpt dann die abgemessene Menge Luft in ihre kleinen Lungen. So muß sie sich nicht selbst anstrengen.
Ein Überwachungsgerät mit -zig Anzeigen steht neben, eines über ihr. Das eine zeigt die Sättigung der Atemluft mit Sauerstoff, über 30 % zeigt es an.
Das andere mißt den Sauerstoffgrad im Blut und ihre Atemfrequenz. Steigen/fallen diese, piept es Alarm. Jetzt ist es gerade ausgeschaltet, da ja alles von der Maschine gesteuert wird.
Aber über den drei anderen Inkis (die Station ist voll besetzt) sind sie an, und regelmäßig piept es an dem einen oder anderen. Dann kommt eine Schwester, überprüft die Anzeigen und stellt etwas herum. Der Raum ist nicht groß, etwa vier auf vier Metern. Ja, während ich hier neben *** stehe und ihre Hand oder ihren Fuß halte, habe ich viel Zeit, mich umzusehen.
Nebenan steht ein Inki mit einem von zwei Zwillingsmädchen, die am zweiten Tag gekommen sind, ca. 30. Woche, also noch kleiner als ***. Ihr Schwesterchen liegt über den offenen Gang in einem zweiten Zimmer. Noch zarter und dünner sehen sie aus, gar nicht wie Babies. Je jünger die Kleinen sind, desto mehr erinnern sie mich an nackte Fledermäuse, mit ihren dünnen Schenkelchen und Kniebeugen, in denen man die Sehnen sieht. Zarter Flaum, der sich über ihre Rücken zieht (auch *** hat sie noch, die Lanugo), kahle Köpfchen mit riesigen Augen.
Wenn man die Schildchen mit den Geburtsdaten sieht (nach drei Tagen kenne ich die Geburtswochen aller anderen Kinder - 30 Wochen, 25, sogar eines mit knapp über 20 Wochen), vor allem die Gewichtsangaben, wird einem ganz anders. 1000 g, das ist eine Tüte Mehl. Nicht viel für eine Handvoll Leben.
Aber die wenigsten dieser Kinder müssen beatmet werden. Meist sind es bereits "angekündigte" Frühgeburten, deren Mütter noch schnell eine Lungenreifungsspritze bekommen haben. Sie atmen recht ordentlich selbst. Ich weiß nicht, ob ich darauf neidisch sein soll... immerhin bleiben die Kinder in der Klinik, bis sie ein Gewicht von 2.500 g erreicht haben - meist zu ihrem regulären Geburtstermin der Fall. Wenn ich so auf ***s momentanes Gewicht schiele - 2.240 g - dann wiederum bin ich überhaupt nicht neidisch, sondern froh.
Vor allem das Kind gegenüber rührt mein Herz. Es liegt schon im normalen Gitterbettchen, ist schon einige Wochen über seinen Geburtstermin hinaus - aber immer noch hat die Kleine Atemschwierigkeiten, bekommt Sauerstoff und hat den traurigsten Gesichtsausdruck, den ich je bei einem Baby gesehen habe.
Täglich kommt ihre Mutter vorbei, und natürlich spricht man auch miteinander. Sie hoffen so sehr, daß sie ihre Kleine bald mit nach Hause nehmen können, wenn auch mit Überwachungsgerät.
Aber als *** endlich soweit ist, daß sie mit mir auf die Mutter-Kind-Station ziehen kann, liegt dieses kleine Mädchen immer noch dort...
Inzwischen geht das Leben weiter. In der zweiten Nacht kommt überraschend eine Nachtschwester an mein Bett und will mich zum Abpumpen wecken. Danke, nein, das kann ich selbst, und ich brumme sie unwillig an:
"Nun machen Sie mal keinen Streß, das wird schon..."
Wütend zischt sie ab. Als ich um vier Uhr von selbst wach werde, weil meine Brüste spannen, und ich bei ihr um ein Glas für die Milchpumpe bitte, fertigt sie mich unwirsch ab und läßt mich etwas warten. Sei´s drum. Ich muß sie ja nicht heiraten.
Die Milch fließt reichlich bei mir, immerhin trinke ich täglich gute zwei, drei Liter (auch bedingt durch die sehr warme Luft in der Intensivstation), und so kann sie mich gerne... nunja. Überhaupt gehen der Station langsam die Gläschen aus, und ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, einen nicht unerheblichen Anteil daran zu haben. Immerhin wird meine Milch auf der Intensiv ja nicht komplett aufgebraucht (Stichwort Überproduktion) und bindet so nicht wenige Gläschen...
Auch die anderen Mütter lernt man langsam näher kennen: da ist die mit dem Zwillingspärchen, und die Türkin oder Griechin, die oft ihren kleinen Sohn da hat.
Einmal spricht sie mich an:
"Ihr Kind ist aber ruhig. Das hört man gar nicht." Sie lächelt freundlich.
Ich lächele zurück.
"Das liegt bestimmt daran, daß es gar nicht hier ist. *** liegt auf der Intensivstation..."
Sie lacht etwas verlegen, und schon sind wir mittendrin im Erzählen - von den Babies, den Geburten, den anderen Kindern...
Und dann gibt es da noch diese andere Mutter, die mich langsam zur Weißglut treibt...
Knapp Anfang bis Mitte Zwanzig, hat sie noch zwei niedliche Söhne im Alter von 5 und 3 Jahren. Jetzt hat sie ein kleines Mädchen bekommen. Wann immer ich sie sehe, hat sie einen Flunsch im Gesicht.
Aufgefallen ist sie mir, als ich über den Krankenhaushof geschlendert bin. Saß mit Bekannten in der Ecke, rauchte eine, und der kleinere Junge saß im Buggy davor. Später hörte ich ihre Stimme durch ein Fenster zum Hof, wie sie den Kleinen anfuhr, ruhig zu sein, still zu sitzen... Keine hundert Meter weiter ist ein Spielplatz, ach was, zweie sind da. Ich weiß es, wir gehen da mit *** hin (es herrscht ja noch immer Bombenwetter). Wäre es so schlimm, DORT zu rauchen?
Ein anderes Mal komme ich um halb Zehn Uhr abends von meiner "***-Schicht" zurück. Da sitzt sie mit Bekannten in der Sitzecke, erzählt, raucht, lacht, und die beiden Kleinen sitzen ein Stück weiter, sichtlich müde und überdreht, sollen stillsitzen, ruhig sein...
Es läßt mir keine Ruhe. Regt mich auf. Schließlich gehe ich raus, setze mich zu ihr, die jetzt innen sitzt und offensichtlich auf ihre Bekannten wartet (die noch schnell die letzte Kippe aufrauchen müssen), und spreche sie darauf an... ob die beiden nicht müde seien. Es wäre doch schon sehr spät. Ja, gut zwanzig vor zehn.
Nun, sie meint, zuhause gingen ihre Jungs ja auch kaum vor 12 Uhr schlafen. Als der Kleine mich neugierig ansprechen will, schnauzt sie ihn wieder an... aber immerhin brechen sie jetzt auf. Ich hoffe, die Jungs kommen ins Bett...
Als sie schließlich entlassen wird, müssen die beiden wieder "ruhig und still" auf sie warten. Den ganzen Vormittag sitzen sie da, warten auf die Mutter, die selbst auf den Arzt wartet. Die Mittagszeit kommt, die Kleinen teilen sich das heutige Mittagessen - eine Suppe... Was kann ich machen? Eine Schwester kommt mir von der Sitzecke her entgegen, zwei Äpfel in der Hand, einen gereizten Gesichtsausdruck um die Nase. Hat sie die Äpfel angeboten, ist abgeblitzt? Ich grübele und grübele, aber außer ein paar Schokopralinen habe ich nichts, gar nichts.
Nach dem Mittagessen sind sie immer noch da.
"Was, immer noch nichts?" frage ich.
"Doch, jetzt ist es fertig. Ich rauche gerade noch auf."
Ich lächele, obwohl mir die Galle hochsteigt. Den ganzen Morgen hat sie auf die Verzögerung geschimpft, wie lange sie warten muß, aber für die Kippe ist jetzt Zeit, wie?
Ein Glück, daß sie sich sterilisieren lassen will, wie sie mir kurz erzählt hat. Selbst meinem Vater, der mich dieser Tage besucht hat, fällt auf, wie unwillig sie mit ihrem kleinen Mädchen umgeht. Immerhin gibt es noch einen Lebensgefährten, der sich um einiges liebevoller dem Kind widmet. Warum? Warum solche Menschen... und andere haben keines?
Inzwischen steigt die Sauerstoffzufuhr bei *** auf über 40 %. Dazu hat man in ihrem Blut Infektwerte gefunden, sie bekommt ein Antibiotikum, und natürlich wird sie auch hübsch bräunlich. Noch sind die Bilirubin-Werte nicht besorgniserregend. Ach, was soll´s. Gelbsucht scheint ja fast dazuzugehören.
Am vierten Tag bekomme ich einen freudigen Schreck, weil ich das "Shht-Shht" der Beatmungspumpe nicht mehr höre. Sollte sie schon so weit sein? Nein, es ist nur ein neueres, leiseres Gerät. Oh. Naja.
Halte einfach nur die kleine Hand, streichele den kleinen Fuß. Wechsele die Windel und rede mit ihr. Singe ihr ein Lied. Und warte ab.
Oft verkürzt sich die Nachmittagsschicht zugunsten von ***, die ja immerhin auch noch da ist. Dann spielt sie auf dem Spielplatz, und ich zeige hoch und sage: Dort, hinter *dem* Fenster, da liegt deine Schwester, und da ist gerade auch der Papa drin...
Nur Eltern dürfen auf die Station. Großeltern schon nicht mehr.
Endlich, am fünften Tag, wird der Tubus gezogen. Die Sauerstoffaufnahme hat sich verbessert. Knapp noch 30 %. Hurra. Ein Schritt vorwärts.
Die Schwester avisiert mir, daß ich sie *vielleicht* heute abend mal im Arm halten darf. Heute abend.
Heute abend...
Aber abends haben sie ihr eine Brille aufgesetzt und das berühmte blaue Licht aufgestellt. Sicher, ich darf immer noch ihre Hand halten. Aber Rausnehmen - gerade jetzt gerade nicht. Gut.
Warte ab. Halte ihre Hand. Rede mit ihr. Singe ein Lied. Wechsele die Windel, messe Fieber. Warte.
Das Meßgerät über ihrem Kopf wird das Wichtigste auf der Welt. Die Sauerstoffaufnahme muß auf 90% herauf. Meist schwankt sie zwischen 60 und 70, dann 70 und 80. Gerät sie aus diesem Bereich heraus, piept es. Übersteigt sie ihn langfristig, wird der Toleranzwert hochgesetzt.
Wenn ich *** streichele, steigt der Wert ein wenig. Regt sie sich auf, fällt er. So streichele ich und beruhige, und immer wieder beäuge ich diesen Wert. Hoch muß er. Ganz hoch. Und dort bleiben.
Dann wieder gibt es diesen Wert auf dem Inki. Und der muß runter, auf 21 %, auf den Luftsauerstoffanteil der normalen Atemluft. Aber der steht noch auf 27 %. Also warte, streichele, wickele, rede... warte ab.
Sechster Tag. Die Schwester schaut mich an.
"Haben Sie denn *** jetzt schon mal gestill?"
"Nein. Darf ich denn?" Eine heiße Woge der Erregung packt mich. Darf ich? DARF ICH?
"Dann schauen wir mal heute Nachmittag. Da nehmen wir sie mal raus."
Sie schaut mich scharf an. "Und Sie gehen jetzt mal rüber und machen einen Mittagsschlaf. Sie sind schon ganz blaß."
Ich grinse sie an und nicke. Von mir aus auch einen Kopfstand, solange ich mein Kind in die Arme nehmen darf.
Es ist sechs Uhr abends, als sie die Seite des Inkis herunterklappt. Ich habe meinen Kittel vorbereitet, meine Brust ist desinfiziert, sitze in einem Gartensessel und strecke die Arme aus.
Es gibt etwas Gewühl, bis alle Schläuche (vor allem der mit dem Sauerstoff) richtig liegen, bis das Kind richtig liegt, und bis die Brustwarze korrekt im Schnütchen meiner Kleinen ruht.
Die Schwester geht.
Hier bin ich, so allein mit dir, wie es geht, meine Kleine. Überall piept es, das sind die Meßgeräte, mein Schatz, komm, trink noch ein wenig, kuschel dich an.
Meine Augen sind irgendwie naß. Und so bald schon muß sie wieder die Brille aufsetzen und zurück in ihren Brutkasten. 20 g Milch hat sie getrunken, wiegen vorher, wiegen nachher. Ein Anfang.
Am achten Tag endlich, nachmittags, beziehen wir ein gemeinsames Zimmer auf der Mutter-Kind-Station. Es wird noch gut 1 ½ Wochen dauern, bis sie mit einem Gewicht von 2.480 g entlassen wird. Bis sie nachts kein Überwachungsgerät mehr in der Windel trägt, das ihren Atem kontrolliert. Bis sie regelmäßig und gut an der Brust trinkt.
Aber dann ist sie endlich zuhause. Bei ihrem Schwesterchen, das sie neun Tage nach der Geburt zum ersten Mal sah: "Dedi" - und am liebsten auf den Arm nehmen wollte.
Gruß,
Buchstabensalat
Nun ist sie weg...
Gerade hatte ich mein kleines Bündel noch im Arm, eingewickelt in eine Decke, mit einem dünnen Sauerstoffschlauch vor der Nase. Ihr Atem geht schnell und unregelmäßig, und die Kinderkrankenschwester der Kinderklinik steht neben mir, bereit, sie mitzunehmen, während der Kinderarzt noch Dinge mit meinem Mann bespricht.
"Geben Sie ihr noch ein Küßchen", muntert sie mich auf.
Ich betrachte das kleine Schnauferl und schüttele den Kopf. Es kommt mir vor, als würde ich ihr dann das Atmen nur noch schwerer machen, wenn ich mich jetzt über sie beuge, sie fester an mich drücke... Entschlossen gebe ich sie rüber. Besser, sie kommt jetzt in den Brutkasten, und man ergreift die richtigen Maßnahmen für sie.
Und dann bin ich allein im Kreisssaal, mein Mann ist nach Hause gefahren, meine Krankenhaustasche zu packen. Wenn er wiederkommt, werden die Hebamme und die Ärztin die Papiere fertig haben, und auch wir fahren dann in den Nachbarort, wo ich auf der Wöchnerinnenstation unterkommen werde, während meine Kleine auf der Intensivstation gepflegt wird. Inzwischen kann ich in Ruhe noch ein Abendessen genießen und über die Namen nachdenken, die wir unserer Kleinen geben wollen.
Da klopft es an der Tür.
Herein kommt meine Freundin, die mir eigentlich zwei Wochen voraus war. Sie hat gleich Schwangerschaftsgymnastik im Hause und ist von meinem Mann informiert worden, und nun grinse ich sie breit an und sage: "Erster".
Sie lacht und beglückwünscht mich, und dann kommt sie, die eine, wichtige Frage: "Wie war es?"
"Du, das darf ich dir eigentlich gar nicht sagen, momentan ist mir nämlich noch alles genau im Gedächtnis."
Nicht, daß sie Erstgebärende wäre, sie hat bereits einen fast zwei Jahre alten Sohnemann - aber der war ein Kaiserschnitt. Auch bei dieser Geburt hat man ihr wieder die Möglichkeit gegeben, einen Kaiserschnitt zu wählen, und nun hängt sie zwischen den beiden Möglichkeiten - natürlich zu entbinden oder "komfortabel" - wäre keine Frage für mich.
Gute vier Stunden, nachdem ich durch den Haupteingang gekommen bin, verlasse ich die gastliche Stätte wieder - ebenfalls auf eigenen Füßen. Wenige Minuten nur dauert die Fahrt, dann schlagen wir auf der Wöchnerinnenstation auf. Mein Mann kümmert sich um alles, während ich in seliger Nach-Geburts-Hormon-Euphorie verharre. Überall Mütter mit Babybettchen, in die ich neugierig hineinluge. Und kaum daß man mir ein Zimmer zugewiesen hat, gehts auch schon für uns auf die Kinder-Intensivstation.
Dort weist man uns in das korrekte Prozedere ein - Klingeln, Blickkontakt mit einer Schwester, durch die Nebentür in den Schleusenraum, Händewaschen, Desinfizieren, Kittel anziehen und dann rein.
Die noch (fast) Namenlose (immerhin steht Vanessa als EIN Vorname schon fest) liegt in einem Inkubator, verloren in einer winzigen Neugeborenenwindel, die ihr fast bis unter die Achseln reicht. Dünne Arme und Beine, ein großer Kopf mit einem zarten Gesichtchen und einem spitzen Kinn. Und Kabel, überall schlängelt sich was, drei Elektroden auf ihrem Körper, ein Sauerstoffbändchen am Fuß, eine Infusion in der Kopfvene, in der Hand, eine Sonde in der Nase...
Immerhin dürfen wir durch die Grifflöcher hineingreifen und sie streicheln. Aber wo?
Nun, immerhin ein Fuß ist ja frei, und die andere Kopfseite auch. So stehen wir um den Kasten herum, einer auf jeder Seite, Hände am Kind, sanft streichelnd... Bis uns bewußt wird, WIE spät es ist. Mein Mann muß ja noch nach Hause, *** wartet ja auf ihn. Und auch mich holen die Strapazen langsam ein. So verabschieden wir uns, erst von ihr, dann von einander.
Auf der Wöchnerinnenstation bekomme ich den obligatorischen Wasserbecher und was Frau noch so braucht. Auch die Milchpumpe wird mir gezeigt, mit dem guten Rat, doch schon Stilltee zu trinken und regelmäßig abzupumpen.
Meine sanften Einwände, das habe keine Not, das ginge schon, werden ungläubig ignoriert. Nun, ihr werdet schon sehen.
Schließlich habe ich meine Erfahrungen gemacht. Nachdem *** auf der Welt war, habe ich am ersten Tag bereits zwei LITER Stilltee getrunken - und bitter bereut. Der Milcheinschuß kam am zweiten Tag (nicht, daß sie vorher groß Hunger leiden mußte - Kolostralmilch war durchaus reichlich da) - und beinahe wären mir die Brüste geplatzt. Mein Mann strahlte, mein Kind soff den ganzen Abend an mir rum, bis es bei jeder Bewegung überschwappte, und ich wurde drei Nächte lang wach, weil ich in einem langsam erkaltenden Milchsee lag. Trotz Stillvorlagen.
Man könnte also sagen, ich habe meine Lektion gelernt, noch dazu, wo ich bereits seit Mai mit tröpfelnder Vormilch-Brust herumgehe. Ich werde den Teufel tun und meine Brust noch anfeuern! Wer zahlt mir nachher die Reparaturarbeiten an meinem Vorbau, wenn ich platze?
Nichtsdestotrotz setze ich mich vor die Pumpe und tue meine Pflicht. Sobald die Milch im Labor analysiert ist, so erklärt man mir, kann sie meiner Kleinen nämlich durch die Sonde zugeführt werden - und das soll so schnell wie möglich geschehen.
Ich bringe ein ganz ansehnliches Pfützchen zusammen, das im Glas in den Kühlschrank wandert. Morgen werde ich es mit auf die Station nehmen.
Schon am frühen Morgen gegen acht Uhr (direkt nach dem Frühstück, daß alle Mütter gemeinsam in einem Frühstückszimmer einnehmen - schöne Idee, finde ich, so gemeinschaftlich) bin ich wieder bei ***. Ja, das steht nun fest. *** lautet der Kompromiß, den wir nach zähem Ringen ausgehandelt haben. Und sofort sorge ich dafür, daß der Name auf ihrem Kärtchen am "Inki", wie die Schwestern zärtlich sagen, eingetragen wird.
Bis zehn, halb elf stehe ich dort neben ihr und halte ihre Hand. Rede immer mal wieder mit ihr. Gehe dann wieder auf die Wöchnerinnen-Station, esse zu Mittag, schlafe etwas, pumpe Milch ab, trinke Tee und bin gegen 15 Uhr wieder bei ihr. Bis gegen sechs. Abendbrot, dann wieder auf die Intensiv, bis ich gegen acht, neun Uhr gehe.
Zwischendurch kommt mein Mann mit der kleinen - nein, Großen. Wenigstens EIN Kind zum In-den-Arm-nehmen. Wir laufen herum, sehen die vielen Babys, und *** lernt ein neues Wort: "Dedi?" Sie ist regelrecht fasziniert von den vielen kleinen Wesen, die ja noch kleiner sind als sie...
Dann der Abschied, **** weint ein wenig, sie versteht nicht, wieso ich nicht mitkomme.
Das wird über die nächsten Tage eine gleichbleibende Routine werden. Abpumpen, zwei-, dreimal am Tage rüber zu ***, ab vier Uhr kommt *** mit Papa oder Opa, gegen sechs fahren die wieder zurück, dann wieder abpumpen und zu *** gehen.
*** braucht immer mehr Sauerstoff. 21 %, so belehrt man mich, befinden sich sowieso in der Atemluft. Die Luft im Inki ist inzwischen zu 27 % mit Sauerstoff gesättigt, Tendenz steigend. 30 % sind es am 2. Tag.
Während meiner Nachmittagsschicht - ich wurde gerade eingewiesen, wie ich mein Kind selbst wickeln kann - spricht mich jemand von hinten an:
"Das ist gut", sagt eine männliche Stimme, "reden Sie immer schön mit dem Kind..."
Ich drehe mich um. Gerade habe ich *** erklärt, daß zum Wickeln auch Fiebermessen gehört, und sie das ganz prima macht, so schön still zu liegen.
Hinter mir steht der Chefarzt, gibt mir seine große, warme, fest zupackende Hand und stellt sich vor. Sympathisch.
Dann kommt er zur Sache.
*** Sauerstoffaufnahme ist nicht gut - ja, das sagte man mir - und meist kommen die Kinder am zweiten, dritten Tag in die Krise. Dazu atmet sie sehr gequält und unruhig - ich betrachte den sich schnell und unregelmäßig hebenden kleinen Brustkorb - und daher würde er sie gerne intubieren.
Aha.
Sie bekäme eine Beruhigungsspritze, und dann würde der Tubus gelegt. Dazu müsse man auch die Länge der Bronchien messen.
Ein großer Computerwagen wird herangerollt.
"Dann wollen Sie sicherlich, daß ich gehe? Ich störe dann doch sicherlich, wenn ich hier so im Weg stehe?"
Er stimmt mir zu, meint aber, wenn ich mir das zutraute, dürfte ich während der Spritzengabe dabeibleiben.
Sicher, kein Problem.
Der Inki wird aufgeklappt und *** quer zum Bettchen herausgenommen. Ich lege die Hände seitlich neben ihren Kopf und halte sie, rede mit ihr, erkläre ihr, was passieren wird. Neben mir wuseln die Schwestern herum. Ich bleibe, bis *** ihre Spritze bekommen hat, erkundige mich, wann ich wiederkommen soll/darf. Abends, das sei kein Problem.
Als ich wiederkomme, höre ich das typische "Shhht-Shhht" einer Beatmungsmaschine. In ***s Hals führt ein relativ kleiner Schlauch, nicht besonders bedrohlich oder beeindruckend anzusehen. Dafür "atmet" sie jetzt regelmäßiger, nicht mehr so gehetzt.
Der Atemimpuls, so erklärt mir eine der Schwestern, wird immer noch von ihr gegeben. Die Maschine nimmt ihn entgegen und pumpt dann die abgemessene Menge Luft in ihre kleinen Lungen. So muß sie sich nicht selbst anstrengen.
Ein Überwachungsgerät mit -zig Anzeigen steht neben, eines über ihr. Das eine zeigt die Sättigung der Atemluft mit Sauerstoff, über 30 % zeigt es an.
Das andere mißt den Sauerstoffgrad im Blut und ihre Atemfrequenz. Steigen/fallen diese, piept es Alarm. Jetzt ist es gerade ausgeschaltet, da ja alles von der Maschine gesteuert wird.
Aber über den drei anderen Inkis (die Station ist voll besetzt) sind sie an, und regelmäßig piept es an dem einen oder anderen. Dann kommt eine Schwester, überprüft die Anzeigen und stellt etwas herum. Der Raum ist nicht groß, etwa vier auf vier Metern. Ja, während ich hier neben *** stehe und ihre Hand oder ihren Fuß halte, habe ich viel Zeit, mich umzusehen.
Nebenan steht ein Inki mit einem von zwei Zwillingsmädchen, die am zweiten Tag gekommen sind, ca. 30. Woche, also noch kleiner als ***. Ihr Schwesterchen liegt über den offenen Gang in einem zweiten Zimmer. Noch zarter und dünner sehen sie aus, gar nicht wie Babies. Je jünger die Kleinen sind, desto mehr erinnern sie mich an nackte Fledermäuse, mit ihren dünnen Schenkelchen und Kniebeugen, in denen man die Sehnen sieht. Zarter Flaum, der sich über ihre Rücken zieht (auch *** hat sie noch, die Lanugo), kahle Köpfchen mit riesigen Augen.
Wenn man die Schildchen mit den Geburtsdaten sieht (nach drei Tagen kenne ich die Geburtswochen aller anderen Kinder - 30 Wochen, 25, sogar eines mit knapp über 20 Wochen), vor allem die Gewichtsangaben, wird einem ganz anders. 1000 g, das ist eine Tüte Mehl. Nicht viel für eine Handvoll Leben.
Aber die wenigsten dieser Kinder müssen beatmet werden. Meist sind es bereits "angekündigte" Frühgeburten, deren Mütter noch schnell eine Lungenreifungsspritze bekommen haben. Sie atmen recht ordentlich selbst. Ich weiß nicht, ob ich darauf neidisch sein soll... immerhin bleiben die Kinder in der Klinik, bis sie ein Gewicht von 2.500 g erreicht haben - meist zu ihrem regulären Geburtstermin der Fall. Wenn ich so auf ***s momentanes Gewicht schiele - 2.240 g - dann wiederum bin ich überhaupt nicht neidisch, sondern froh.
Vor allem das Kind gegenüber rührt mein Herz. Es liegt schon im normalen Gitterbettchen, ist schon einige Wochen über seinen Geburtstermin hinaus - aber immer noch hat die Kleine Atemschwierigkeiten, bekommt Sauerstoff und hat den traurigsten Gesichtsausdruck, den ich je bei einem Baby gesehen habe.
Täglich kommt ihre Mutter vorbei, und natürlich spricht man auch miteinander. Sie hoffen so sehr, daß sie ihre Kleine bald mit nach Hause nehmen können, wenn auch mit Überwachungsgerät.
Aber als *** endlich soweit ist, daß sie mit mir auf die Mutter-Kind-Station ziehen kann, liegt dieses kleine Mädchen immer noch dort...
Inzwischen geht das Leben weiter. In der zweiten Nacht kommt überraschend eine Nachtschwester an mein Bett und will mich zum Abpumpen wecken. Danke, nein, das kann ich selbst, und ich brumme sie unwillig an:
"Nun machen Sie mal keinen Streß, das wird schon..."
Wütend zischt sie ab. Als ich um vier Uhr von selbst wach werde, weil meine Brüste spannen, und ich bei ihr um ein Glas für die Milchpumpe bitte, fertigt sie mich unwirsch ab und läßt mich etwas warten. Sei´s drum. Ich muß sie ja nicht heiraten.
Die Milch fließt reichlich bei mir, immerhin trinke ich täglich gute zwei, drei Liter (auch bedingt durch die sehr warme Luft in der Intensivstation), und so kann sie mich gerne... nunja. Überhaupt gehen der Station langsam die Gläschen aus, und ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, einen nicht unerheblichen Anteil daran zu haben. Immerhin wird meine Milch auf der Intensiv ja nicht komplett aufgebraucht (Stichwort Überproduktion) und bindet so nicht wenige Gläschen...
Auch die anderen Mütter lernt man langsam näher kennen: da ist die mit dem Zwillingspärchen, und die Türkin oder Griechin, die oft ihren kleinen Sohn da hat.
Einmal spricht sie mich an:
"Ihr Kind ist aber ruhig. Das hört man gar nicht." Sie lächelt freundlich.
Ich lächele zurück.
"Das liegt bestimmt daran, daß es gar nicht hier ist. *** liegt auf der Intensivstation..."
Sie lacht etwas verlegen, und schon sind wir mittendrin im Erzählen - von den Babies, den Geburten, den anderen Kindern...
Und dann gibt es da noch diese andere Mutter, die mich langsam zur Weißglut treibt...
Knapp Anfang bis Mitte Zwanzig, hat sie noch zwei niedliche Söhne im Alter von 5 und 3 Jahren. Jetzt hat sie ein kleines Mädchen bekommen. Wann immer ich sie sehe, hat sie einen Flunsch im Gesicht.
Aufgefallen ist sie mir, als ich über den Krankenhaushof geschlendert bin. Saß mit Bekannten in der Ecke, rauchte eine, und der kleinere Junge saß im Buggy davor. Später hörte ich ihre Stimme durch ein Fenster zum Hof, wie sie den Kleinen anfuhr, ruhig zu sein, still zu sitzen... Keine hundert Meter weiter ist ein Spielplatz, ach was, zweie sind da. Ich weiß es, wir gehen da mit *** hin (es herrscht ja noch immer Bombenwetter). Wäre es so schlimm, DORT zu rauchen?
Ein anderes Mal komme ich um halb Zehn Uhr abends von meiner "***-Schicht" zurück. Da sitzt sie mit Bekannten in der Sitzecke, erzählt, raucht, lacht, und die beiden Kleinen sitzen ein Stück weiter, sichtlich müde und überdreht, sollen stillsitzen, ruhig sein...
Es läßt mir keine Ruhe. Regt mich auf. Schließlich gehe ich raus, setze mich zu ihr, die jetzt innen sitzt und offensichtlich auf ihre Bekannten wartet (die noch schnell die letzte Kippe aufrauchen müssen), und spreche sie darauf an... ob die beiden nicht müde seien. Es wäre doch schon sehr spät. Ja, gut zwanzig vor zehn.
Nun, sie meint, zuhause gingen ihre Jungs ja auch kaum vor 12 Uhr schlafen. Als der Kleine mich neugierig ansprechen will, schnauzt sie ihn wieder an... aber immerhin brechen sie jetzt auf. Ich hoffe, die Jungs kommen ins Bett...
Als sie schließlich entlassen wird, müssen die beiden wieder "ruhig und still" auf sie warten. Den ganzen Vormittag sitzen sie da, warten auf die Mutter, die selbst auf den Arzt wartet. Die Mittagszeit kommt, die Kleinen teilen sich das heutige Mittagessen - eine Suppe... Was kann ich machen? Eine Schwester kommt mir von der Sitzecke her entgegen, zwei Äpfel in der Hand, einen gereizten Gesichtsausdruck um die Nase. Hat sie die Äpfel angeboten, ist abgeblitzt? Ich grübele und grübele, aber außer ein paar Schokopralinen habe ich nichts, gar nichts.
Nach dem Mittagessen sind sie immer noch da.
"Was, immer noch nichts?" frage ich.
"Doch, jetzt ist es fertig. Ich rauche gerade noch auf."
Ich lächele, obwohl mir die Galle hochsteigt. Den ganzen Morgen hat sie auf die Verzögerung geschimpft, wie lange sie warten muß, aber für die Kippe ist jetzt Zeit, wie?
Ein Glück, daß sie sich sterilisieren lassen will, wie sie mir kurz erzählt hat. Selbst meinem Vater, der mich dieser Tage besucht hat, fällt auf, wie unwillig sie mit ihrem kleinen Mädchen umgeht. Immerhin gibt es noch einen Lebensgefährten, der sich um einiges liebevoller dem Kind widmet. Warum? Warum solche Menschen... und andere haben keines?
Inzwischen steigt die Sauerstoffzufuhr bei *** auf über 40 %. Dazu hat man in ihrem Blut Infektwerte gefunden, sie bekommt ein Antibiotikum, und natürlich wird sie auch hübsch bräunlich. Noch sind die Bilirubin-Werte nicht besorgniserregend. Ach, was soll´s. Gelbsucht scheint ja fast dazuzugehören.
Am vierten Tag bekomme ich einen freudigen Schreck, weil ich das "Shht-Shht" der Beatmungspumpe nicht mehr höre. Sollte sie schon so weit sein? Nein, es ist nur ein neueres, leiseres Gerät. Oh. Naja.
Halte einfach nur die kleine Hand, streichele den kleinen Fuß. Wechsele die Windel und rede mit ihr. Singe ihr ein Lied. Und warte ab.
Oft verkürzt sich die Nachmittagsschicht zugunsten von ***, die ja immerhin auch noch da ist. Dann spielt sie auf dem Spielplatz, und ich zeige hoch und sage: Dort, hinter *dem* Fenster, da liegt deine Schwester, und da ist gerade auch der Papa drin...
Nur Eltern dürfen auf die Station. Großeltern schon nicht mehr.
Endlich, am fünften Tag, wird der Tubus gezogen. Die Sauerstoffaufnahme hat sich verbessert. Knapp noch 30 %. Hurra. Ein Schritt vorwärts.
Die Schwester avisiert mir, daß ich sie *vielleicht* heute abend mal im Arm halten darf. Heute abend.
Heute abend...
Aber abends haben sie ihr eine Brille aufgesetzt und das berühmte blaue Licht aufgestellt. Sicher, ich darf immer noch ihre Hand halten. Aber Rausnehmen - gerade jetzt gerade nicht. Gut.
Warte ab. Halte ihre Hand. Rede mit ihr. Singe ein Lied. Wechsele die Windel, messe Fieber. Warte.
Das Meßgerät über ihrem Kopf wird das Wichtigste auf der Welt. Die Sauerstoffaufnahme muß auf 90% herauf. Meist schwankt sie zwischen 60 und 70, dann 70 und 80. Gerät sie aus diesem Bereich heraus, piept es. Übersteigt sie ihn langfristig, wird der Toleranzwert hochgesetzt.
Wenn ich *** streichele, steigt der Wert ein wenig. Regt sie sich auf, fällt er. So streichele ich und beruhige, und immer wieder beäuge ich diesen Wert. Hoch muß er. Ganz hoch. Und dort bleiben.
Dann wieder gibt es diesen Wert auf dem Inki. Und der muß runter, auf 21 %, auf den Luftsauerstoffanteil der normalen Atemluft. Aber der steht noch auf 27 %. Also warte, streichele, wickele, rede... warte ab.
Sechster Tag. Die Schwester schaut mich an.
"Haben Sie denn *** jetzt schon mal gestill?"
"Nein. Darf ich denn?" Eine heiße Woge der Erregung packt mich. Darf ich? DARF ICH?
"Dann schauen wir mal heute Nachmittag. Da nehmen wir sie mal raus."
Sie schaut mich scharf an. "Und Sie gehen jetzt mal rüber und machen einen Mittagsschlaf. Sie sind schon ganz blaß."
Ich grinse sie an und nicke. Von mir aus auch einen Kopfstand, solange ich mein Kind in die Arme nehmen darf.
Es ist sechs Uhr abends, als sie die Seite des Inkis herunterklappt. Ich habe meinen Kittel vorbereitet, meine Brust ist desinfiziert, sitze in einem Gartensessel und strecke die Arme aus.
Es gibt etwas Gewühl, bis alle Schläuche (vor allem der mit dem Sauerstoff) richtig liegen, bis das Kind richtig liegt, und bis die Brustwarze korrekt im Schnütchen meiner Kleinen ruht.
Die Schwester geht.
Hier bin ich, so allein mit dir, wie es geht, meine Kleine. Überall piept es, das sind die Meßgeräte, mein Schatz, komm, trink noch ein wenig, kuschel dich an.
Meine Augen sind irgendwie naß. Und so bald schon muß sie wieder die Brille aufsetzen und zurück in ihren Brutkasten. 20 g Milch hat sie getrunken, wiegen vorher, wiegen nachher. Ein Anfang.
Am achten Tag endlich, nachmittags, beziehen wir ein gemeinsames Zimmer auf der Mutter-Kind-Station. Es wird noch gut 1 ½ Wochen dauern, bis sie mit einem Gewicht von 2.480 g entlassen wird. Bis sie nachts kein Überwachungsgerät mehr in der Windel trägt, das ihren Atem kontrolliert. Bis sie regelmäßig und gut an der Brust trinkt.
Aber dann ist sie endlich zuhause. Bei ihrem Schwesterchen, das sie neun Tage nach der Geburt zum ersten Mal sah: "Dedi" - und am liebsten auf den Arm nehmen wollte.
Gruß,
Buchstabensalat
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