AW: Im Rhythmus der Stille von Sarah Neef
Hallo Rona Roya,
ich bin mit einer lautsprachlich kommunizierenden Gehörlosen eng befreundet. Dass sie gehörlos ist, spielt dabei für mich nur insoweit eine Rolle, dass ihre von Geburt an vorhandene Gehörlosigkeit und die sich daraus ergebende Lebensgeschichte ihre Persönlichkeit maßgeblich geprägt haben. Und es ist eben diese Persönlichkeit, die mich an ihr anzieht.
Wäre sie nicht lautsprachlich erzogen worden, bin ich mir sicher, dass ihre Persönlichkeit heute völlig anders wäre (ANDERS, nicht "SCHLECHTER"!) und dass wir dann heute nicht in diesem Maße miteinander befreundet wären. Erschwerend hinzu käme der Umstand, dass Gehörlose, die von Anfang an ausschließlich die Gebärdensprache verwenden, eine ganz andere Grammatik verwenden, so dass selbst die schriftliche Kommunikationmöglichkeit nicht so ohne Weiteres gegeben wäre.
Ich möchte mich hier ausdrücklich NICHT in den "Kulturenstreit" zwischen Gebärdenden und Oralisten einmischen. Keine dieser Kulturen hat mehr oder weniger Daseinsberechtigung als die andere!
Aber um das Bild vom Berg und Propheten zu bemühen, ist es wohl angeraten, dass ich mich als Angehöriger einer Minderheit auf die Mehrheit zubewege, wenn ich von ihr akzeptiert werden will. Wenn ich z.B. beschließe in Frankreich zu leben, darf ich nicht erwarten, dass alle Franzosen um mich rum Deutsch lernen. Da werde wohl schon ich Französisch lernen müssen, um mit den Franzosen kommunizieren zu können. Dementsprechend wird sich der Gehörlose wohl schon eher die lautsprachliche Kommunikation aneignen müssen, um mit den Hörenden uneingeschränkt zu kommunizieren. Er darf wohl eher nicht erwarten, dass die Hörenden die Gebärdensprache erlernen. Auch wenn ich zu meiner Überraschung erfahren habe, dass sich die Gebärdensprache "großer" Beliebtheit erfreut und größenordnungsmäßig 10mal so viele Menschen in Deutschland die/eine Gebärdensprache beherrschen, als es Gehörlose gibt. Und ich finde das toll! Aber dennoch ist dies immer noch ein verschwindend geringer Anteil an der lautsprachlich kommunizierenden Bevölkerung. Darum kann ich einer Sarah Neef eigentlich nur in die Hände reden und ihrer Forderung Nachdruck verleihen, dass Gehörlosen die lautsprachliche Erziehung ermöglicht werden muss (und "ermöglicht" heißt nicht "erzwungen"!). Und da die lautsprachlicher Erziehung unbestrittenerweise deutlich aufwändiger ist, als das Erlernen der Gebärdensprache, ist da auch durchaus der Staat in die Pflicht zu nehmen. Da gerade bei gehörlosen Kleinkinder der frühestmögliche Beginn der lautsprachlichen Erziehung für einen größtmögliche Erfolg unabdingbar ist, darf eine lautsprachliche Erziehung nicht an der wirtschaftlichen Situation der Familie scheitern. Da muss notfalls der Staat einspringen. Es ist auch überhaupt nicht einzusehen, dass z.B. Gehörlose kein Anrecht auf optimale Unterstützung haben sollen, während beispielweise bei Gehbehinderten in dieser Hinsicht kein Hahn mehr nach Unterstützung - und vor allem dem Verständnis dafür - krähen muss.
Deshalb muss ich Dir auch ein bisschen "ins Gewissen reden", was Deine Ansicht zur Schule anbelangt. Ich gebe Dir völlig recht, dass lautsprachlich kommunizierende Gehörlose nicht in normale Schulen gezwungen werden dürfen. Aber ich vertrete vehement die Meinung, dass ihnen der Besuch einer normalen Schule ermöglicht werden muss, wenn dies gewünscht wird. Man muss dabei das Kind sicherlich sehr feinfühlig beobachten, ob es möglicherweise nicht hoffnungslos überfordert ist. Aber per se kann ich nicht zustimmen, dass man beispielsweise auf die besonderen Umstände eines Kindes mit Migrationshintergrund in der Schule eingeht, indem man ihm beispielsweise individuelle sprachliche Förderung angedeihen lässt, es aber kategorisch ablehnt auf die Bedürfnisse eines gehörlosen Kindes einzugehen. Wie man am Beispiel Sarah Neefs sieht, kann es sehr wohl funktionieren. Und der Schulbetrieb wurde durch sie keineswegs in unduldbarer Weise gestört. Vor allem kann es nicht sein, dass eine vielleicht anfänglich bei der Einschulung noch verständliche Skepsis in übelste Diskriminierung ausartet und bis hin zum Abitur aufrecht erhalten wird. Das ist durch nichts zu rechtfertigen! Du sagst es ja selber: das kann zu Selbstmordgedanken führen und auch Sarah Neef beschreibt eine Situation, in der Sie ernsthaft darüber nachdachte sich lieber selbst zu verstümmeln, als sich ihrem Martyrium in der Schule zu stellen.
Sicherlich darf man jetzt nicht in den Fehler verfallen, das Beispiel Sarah Neef als DEN Prototypen für lautsprachlich kommunizierende Gehörlose hinzustellen. Sie ist zweifellos ein besonderer Fall. Aber sie beweist: Es kann funktionieren. Und deshalb wäre es genau so falsch, sie als einmaligen, niemals wiederkehrenden Ausnahmefall abzutun. Damit täte man all jenen Gehörlosen unrecht, in denen genau soviel Potential und Leistungsvermögen steckt und die letztendlich nur an den Vorurteilen der Gesellschaft scheitern. Auch Sarah Neef betont immer wieder, dass sie Entgegenkommen von den Hörenden braucht, um in deren Welt bestehen zu können. Aber wenn man "Im Rhythmus der Stille" aufmerksam liest und ein Bisschen darüber nachdenkt, merkt man, wie wenig und lächerlich im Grunde das Entgegenkommen ist, das von uns Hörenden abverlangt wird. Deshalb kann ich nur für mehr Neugierde und Aufgeschlossenheit werben. Es tun sich ungeahnte Welten auf, wenn man seine Vorurteile über Bord wirft und Unbekanntes/Ungewohntes einfach mal auf sich zukommen lässt. Hand auf's Herz: Wer ist nicht erstaunt - im Positiven, wie im Negativen -, bei der Lektüre von Sarah Neefs Lebensgeschichte? Selbst Du... und Du bist ja "vom Fach" ;-)
Gruß
Librum